- 12 September 2022|
- Dr. Alfred Ponzer
StaRUG: Neue BGH-Rechtsprechung zur Zahlungsunfähigkeit
Die Zahlungsunfähigkeit spielt in Sanierungsfällen eine zentrale Rolle. In StaRUG-Verfahren muss einerseits für den Zugang zu dem Verfahren drohende Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO) vorliegen. Andererseits darf Zahlungsunfähigkeit im Sinne von § 17 InsO nicht bereits eingetreten sein. Der BGH hat hierzu neue Grundsätze aufgestellt.
Die BGH-Rechtsprechung
Ausgangspunkt bleibt die 10%-Regelung. Zahlungsunfähigkeit und nicht nur eine vorübergehende Zahlungsstockung liegt vor, wenn der Schuldner nicht in der Lage ist, sich innerhalb von drei Wochen die zur Begleichung der fälligen Forderungen benötigten finanziellen Mittel zu beschaffen und die Liquiditätslücke auf unter 10 % zurückzuführen (BGH vom 19.12.2017 - II ZB 88/16; BGH vom 24. Mai 2005 - IX ZR 123/04, BGHZ 163, 134, 138 ff.; Urteil vom 21. Juni 2007 - IX ZR 231/04, ZIP 2007, 1469 Rn. 37). Der Beurteilung ist danach eine auf drei Wochen bezogene Liquiditätsbilanz zugrunde zu legen. In die zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit aufzustellende Liquiditätsbilanz sind auf der Aktivseite neben den verfügbaren Zahlungsmitteln (sog. Aktiva I) die innerhalb von drei Wochen flüssig zu machenden Mittel (sog. Aktiva II) einzubeziehen und zu den am Stichtag fälligen und eingeforderten Verbindlichkeiten (sog. Passiva I) sowie den innerhalb von drei Wochen fällig werdenden eingeforderten Verbindlichkeiten (sog. Passiva II) in Beziehung zu setzen (BGH a.a.O.).
In zwei neuen Entscheidungen hat der BGH sich mit der Frage beschäftigt, wie die Zahlungsunfähigkeit im Sinne von § 17 InsO festgestellt werden kann:
Der IX. Senat, zuständig für Insolvenzrecht, hat in seinem Urteil vom 28.04.2022 - IX ZR 48/21 die Rechtsprechung des II. Senats aus dem Jahre 2017 übernommen und die Zahlungsunfähigkeit durch einen Liquiditätsstatus in Verbindung mit einem Finanzplan für die auf den Stichtag folgenden drei Wochen festgestellt, in dem tagesgenaue Einzahlungen und Auszahlungen gegenübergestellt werden. Beide Senate wenden somit diese Methode an, wonach ausgehend von der verfügbaren Liquidität für den maßgeblichen Zeitraum von drei Wochen anhand der tatsächlichen Zu- und Abgänge festgestellt wird, ob eine Deckungsquote von wenigstens 90 % erreicht wurde oder die Deckungslücke 10 % oder mehr ausgemacht hat.
Nach einer weiteren Entscheidung des II. Senats, zuständig für Gesellschaftsrecht und Haftungsprozesse gegen Geschäftsführer, spricht auch nichts dagegen, zur Darlegung der Zahlungsunfähigkeit stichprobenartig mehrfach einen Liquiditätsstatus zu erstellen und aus diesen mehreren Zeitpunkten - in aussagekräftiger Anzahl - die Zahlungsunfähigkeit abzuleiten, wenn aufgrund einer erheblichen Unterdeckung für keinen der im Prognosezeitraum liegenden bilanzierten Tage die Liquiditätslücke in relevanter Weise geschlossen werden kann (BGH vom 28.06.2022 - II ZR 112/21). Im entschiedenen Fall ist ebenfalls der Zeitraum von drei Wochen betrachtet worden und an vier verschiedenen Stichtagen jeweils eine Unterdeckung in Höhe von rund 50 % festgestellt worden. Dies hat dem II. Senat in einem Haftungsprozess gegen den Geschäftsführer einer GmbH genügt, um anfängliche Zahlungsunfähigkeit für den gesamten Zeitraum von drei Wochen anzunehmen.
In der juristischen Literatur gibt es aktuell sehr unterschiedliche Reaktionen auf diese neueste Entwicklung. Es wird vertreten, die Entscheidung des II. Senats zur Darlegung der Zahlungsunfähigkeit mittels statischer Liquiditätsdaten verdiene uneingeschränkte Zustimmung (Berbuer, Endlich: BGH bestätigt Darlegung der Zahlungsunfähigkeit mittels statischer Liquiditätsdaten, ZInsO 2022, 1769). Andere Stimmen weisen darauf hin, dass die Rechtsprechung Raum für erhebliche Unsicherheiten und Interpretationsräume eröffne, indem die bislang anerkannten Methoden zum Nachweis der Zahlungsunfähigkeit unterboten werden (Anm. Hageböke/Benzinger, ZInsO 2022, 1795).
Praxistipps
Es gehört zur Praxis der ordentlichen Sanierungsberatung, in der Krise mit einem aktuellen Liquiditätsplan, der fortlaufend fortgeschrieben werden muss, die Frage der Zahlungsunfähigkeit zu prüfen, auch um das Ergebnis später erforderlichenfalls förmlich nachweisen zu können. Die Grundstruktur der Herangehensweise des BGH, in Prozessen im Nachhinein die für 3 Wochen verfügbare Liquidität anhand feststehender Ausgangssalden und der Zu- und Abgänge zu ermitteln, ist im Bereich der Sanierungsberatung durch vorausschauende Prognoserechnungen zu beachten, die denselben Prinzipien folgen.
Zu bedenken bleibt stets, dass der Insolvenzgrund der Überschuldung trotz der Ausdehnung des relevanten Bewertungszeitraumes auf ein Jahr (§ 19 Abs. 2 S. 1 InsO) als eigenständiger Insolvenzgrund Bestand hat und eine Insolvenzantragspflicht auslösen kann (§ 15a InsO).
Zu bedenken bleibt auch, dass ein Sanierungsversuch gewisse (hohe) Voraussetzungen erfüllen muss, um als Rechtfertigung dafür zu dienen, dass trotz Zahlungsunfähigkeit kein Insolvenzantrag gestellt wird (BGH vom 3.3.2022 - IX ZR 78/20).
Ungeklärt ist die Frage, ob in atypischen Fallkonstellationen, in denen die unterschiedliche Herangehensweise bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit zu unterschiedlichen Ergebnissen führt, einer der Methoden ein Vorrang zugesprochen werden kann, und ob die Grundsätze zur Feststellung für die Insolvenzantragspflicht, Haftungsprozesse und Anfechtungsprozesse einheitlich angewendet werden können oder Besonderheiten zu beachten sind. Nach dem Vorsichtsprinzip müssen alle Methoden nebeneinander beachtet werden, nach dem Günstigkeitsprinzip könnte aber auch zugunsten der Beteiligten ausreichen, wenn nach einer Methode die Zahlungsunfähigkeit belastbar nicht eingetreten ist.
Schließlich ist stets auch noch zu bedenken, dass neben den oben behandelten Ansätzen die sogenannte kriminalistische Methode der Feststellung der Zahlungsunfähigkeit ebenfalls noch anerkannt ist. Nach § 17 Abs. 2 S. 2 InsO ist Zahlungsunfähigkeit in der Regel anzunehmen, wenn der Schuldner seine Zahlungen eingestellt hat. Für die wertende Betrachtung, ob im Rahmen einer Gesamtschau genügend Beweiszeichen dafürsprechen, dass eine solche Zahlungseinstellung vorliegt, kommt es entscheidend darauf, ob und in welchem Umfang fällige Forderungen nicht erfüllt werden.
Maßgeblich sind Indizien. Anerkannte Beispiele hierfür sind die Nichterfüllung auch nur einer (hohen) Forderung, die schleppende Zahlung von Löhnen und Gehältern, die Nichtabführung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen, die Nichtbegleichung von Lieferantenschulden oder anderen Verbindlichkeiten in größerem Umfang, Zahlungen erst auf Mahnbescheid hin und mit Einschränkungen auch Ratenzahlungen, die irgendwann eingestellt werden (Uhlenbruck/Mock, InsO, § 17 RN 167 f. mit Nachweisen). Naturgemäß gilt dies gleichermaßen bei einer Häufung von Pfändungen, Arresten, fruchtlosen Pfändungen und der Eintragung von Zwangshypotheken oder dem Erlass von Versäumnisurteilen (Uhlenbruck/Mock a. a. O. RN 169 mit Nachweisen). In all diesen Fällen geht es in der Praxis darum, bei einer entsprechenden Verdichtung der Indizien den Gegenbeweis führen zu können, indem belastbare Liquiditätsplanungen erstellt werden, die den obigen Anforderungen entsprechen und keine Liquiditätslücke von 10 % oder mehr ausweisen.
An der Schnittstelle zwischen StaRUG-Verfahren und Insolvenzverfahren ist einerseits die drohende Zahlungsunfähigkeit, also eine entsprechende Unterdeckung binnen der nächsten 24 Monate (§ 18 Abs. 2 S. 2 InsO), Voraussetzung für den Zugang zum StaRUG-Verfahren (vgl. § 63 Abs. 1 Ziff. 1 StaRUG). Andererseits ist dieser Zugang verbaut, wenn wegen bereits eingetretener Zahlungsunfähigkeit die Insolvenzantragspflicht des § 15a InsO besteht (vgl. § 33 StaRUG). Tritt die Zahlungsunfähigkeit bei laufendem StaRUG-Verfahren ein, hat der Schuldner dies dem Gericht anzuzeigen und das Gericht nach § 33 Abs. 2 Ziffer 1 StaRUG über die Frage zu befinden, ob die Restrukturierungssache aufgehoben und in ein Insolvenzverfahren überführt wird, oder ob es im Interesse der Gläubiger liegt, das StaRUG-Verfahren trotz Insolvenzgrund zu einem Abschluss zu bringen, weil es bereits weit gediehen ist und daraus den Gläubigern keine Nachteile erwachsen können.
Dr. Alfred Ponzer
Rechtsanwalt
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